Familienkrieg

Teil 1: Mein Sohn, der Nazi

Teil 2: Entzugserscheinungen

Teil 3: HassLiebe

Buch und RegieReinhard Schneider
KameraJutta von Stieglitz und Bernhard Schönherr
SchnittReinhard Schneider
Länge3 x 44 Minunten
AuftraggeberRadio Bremen / ARD
Jahr2002
PreiseDeutscher Sozialpreis 2003


Der Neonazi isst mit

Die dreiteilige Doku „Familienkrieg“ beobachtet den Versuch, bürgerliche Idylle herzustellen, obwohl der Sohn rechtsradikal ist. (Teil 1 um 21.40 Uhr, ARD, Teil 2 und 3 am Montag und Mittwoch)
von TIM SCHOMACKER
Eine Autofahrt. „Er ist damals in die rechte Szene gezogen worden“, erzählt Susanne, die am Steuer sitzt, „seitdem kann man unser Familienleben nicht mehr als Familienleben titeln – nur noch als Machtkampf.“ Sie ist Simons Mutter. Eine andere Autofahrt. „Jetzt kommt mein Lieblingslied!“ Diesmal spricht Simon. Wir sehen ihn am Steuer, das Radio lauter drehen, mit dem Kopf wippen, mitsingen. Ein Lied, in dem sich „Kameraden“ auf „… die Mädels müssen warten“ reimt und der von „Bomben auf Israel“ fantasiert.

Diese Sequenzen tragen viel von dem in sich, worum es in der dreiteiligen Fersehdokumentation „Familienkrieg“ geht: die Familie und das Verhältnis der Geschlechter. Markiert werden vor allem jene Punkte, wo es nicht so einfach ist, zu sagen: „Nazis sind so“, oder „Linksliberale Frauen in den Vierzigern sind so.“ Reinhard Schneider hat die Dramaturgie des Dreiteilers eher um Brüche herumgebaut als um Gewissheiten oder Klischees.

So ist Simons Freundin Sandra Faschistin und drogenabhängig, was ihn gegenüber seinen Kameraden in argen Erklärungsnotstand bringt. „Weißt du eigentlich, wie weh mir das tut, wenn du das Zeug nimmst? Alles Scheiße!“, sagt er. Sie, leise: „Nicht alles Scheiße.“ – „Doch. Du kennst meine Einstellung …“ Gerade für die aussagekräftigen Szenen muss der Filmer viel Geduld aufbringen. So bleibt der Dreiteiler eng an den Familienmitgliedern und unterstreicht das „Ritualhafte“ ihrer Handlungen. Im Mittelpunkt steht die Hassliebe zwischen Mutter und Sohn.

Weil die Dreharbeiten über ein gutes Jahr verteilt sind, kann man beobachten, wie bestimmte Handlungen sich wiederholen. Ohne Veränderung laufen sie ins Leere. Dem Streit am Familientisch im ersten Teil entspricht die Diskussion um Simons Lehrstelle im zweiten oder sein Besuch bei Mutter und Bruder im abschließenden Teil. Der studierte Theaterwissenschaftler Schneider macht die vor der Kamera agierenden Menschen zu Figuren in einer Art Kammerspiel. Es ist als Dreiakter gebaut und handelt in erster Linie von der allseitigen Sprachlosigkeit in dieser Familienhölle. „Was ich nicht in Worte fassen kann, macht noch mehr Angst – mir jedenfalls“, sagt Susanne einmal. Die Sprachlosigkeit funktioniert als Schweigen wie als Geschrei. Den Menschen bleibt, scheints, kaum etwas übrig, als sich eines stereotypisierten sprachlichen, mimischen und gestischen Repertoires zu bedienen.

Die gut fünfzig Stunden Rohmaterial sind geschickt arrangiert. Die Autofahrt aus Teil eins wird zu Beginn des zweiten wiederholt. Zu den drei Sätzen, die Susanne sagt, kommen drei weitere hinzu. So gelangt „Familienkrieg“ zu unterschiedlichen Blickwinkeln, dreht sich zugleich spürbar immer mehr hinein in den zum Scheitern verurteilten Versuch, die Idee der bürgerlichen Kleinfamilie zu leben. Gerade weil Schneider den „Familienkrieg“ ohne formale Extravaganzen ins Bild setzt, entsteht der Eindruck von Komplexität dort, wo er hingehört: in der Geschichte – und nicht bei den Bildern, die er davon macht.

Die dokumentierte Ausweglosigkeit wird abgekoppelt vom „Wie konnte es dazu kommen?“. Die Figuren sind ambivalent; sie sind sozial gerahmt und entscheidungsfähig zugleich. Jeglichem Versuch, eine Zwangsläufigkeit zu unterstellen, erteilt die Langzeitbeobachtung eine Absage. Der „schlechte Umgang“ oder das Dasein als „Pseudopunk“, die Konkurrenz zum Bruder oder die Abwesenheit des Vaters – all diese Erklärungsversuche werden nicht von außen an die Familie herangetragen. Sie sind Bestandteil des „Familienkriegs“ selbst. Doch nichts davon reicht hin, jemanden zum bekennenden Anhänger der NSDAP und Rassisten zu machen.

Am Schluss ist Simon auf dem Weg zu Sandra, sie im Knast besuchen. Beide sind mittlerweile verheiratet. „Unser Familienleben, das wo wir halt planen, wird konservativ sein – schließlich sind wir Nazis …“ Er grinst. Eigentlich ist der „Familienkrieg“ eine Reality Soap. Nur rausgewählt wird hier niemand. taz Nr. 6751 vom 17.5.2002

Rosemarie Bölts

Provokationsschraube
MEDIENTAGEBUCH Wie wird ein junger Mann zum Nazi? Die ARD-Dokumentation „Familienkrieg“Man hört aus dem Off den plätschernden Klang von Besame mucho. Im Bild fährt die Kamera (Jutta von Stieglitz und Bernhard Schönherr) durch die sanften Buckel Niederbayerns. Kann es etwas Unschuldigeres geben als diese Landschaft? Auch die Ortschaften Vilshofen und Ortenburg machen reinste Idylle anschaulich. So frisch herausgeputzt alles, so heimelig die Fassaden. Dahinter allerdings sieht es mitunter nicht mehr so schnuckelig aus, und wenn man genau hinschaut, dann möchte man glauben, dass es bestimmte Gegenden in Deutschland gibt, wo man lieber nicht leben möchte. Zum Beispiel Niederbayern, wo die Welt besonders dumpf zu sein scheint. Wo sich die besser betuchten Männer in „Cocktail-Bars“ bei Aids-infizierten Drogenabhängigen einen runter holen, und kirchliche Sozialarbeit sich in der Hilfe von Bewerbungsschreiben erschöpft. Wo stiernackige, kahl geschorene Nazis in Springerstiefeln besoffen verbotene Lieder grölen und auch in stinknüchternem Zustand saudumme Phrasen dreschen. Aufgeplusterte, vollwanstige Aggressionsbomben, die bei der kleinsten Provokation in die Luft gehen und sich außer mit Alkohol mit abartigen Brutalo-Computerspielen volldröhnen. Erfurt ist noch frisch, und die dreiteilige Dokumentation Familienkrieg, die unter dem symptomatischen Programmtitel Unter deutschen Dächern von Radio Bremen produziert wird, passt zur gegenwärtigen Lage wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge. Lauten die allseitigen Fragen nicht immer wieder: Wie wird ein junger Mann Nazi? Warum in der heutigen Gesellschaft, die Jugendlichen angeblich alle Optionen offen hält, sozial abfedert, demokratisch organisiert? Was ist falsch gelaufen, wer hat Schuld?
Autor Reinhard Schneider hat eine authentische Familie ausgemacht, für deren Dokumentation er letztes Jahr bereits einen Hörspiel-Preis (Prix Italia) erhalten hat und die nun ins Bild gesetzt wurde. Die Geschichte, die man wegen der dargestellten Tabulosigkeit glatt für inszeniert halten könnte, handelt von Simon, dem 19-jährigen Sohn von Susanne, der vor vier Jahren vom Punk zum „Nationalsozialist“ mutiert ist, mit allen oben beschriebenen Ingredienzien. Zum Entsetzen seiner Mutter, dem Unverständnis seines Stiefvaters und dem Verlust brüderlicher Autorität bei seinem vier Jahre jüngeren Bruder.Der Autor begleitete mit seinem TV-Team ein Jahr lang diese äußerlich bürgerliche Familie, von der die Mutter behauptet, dass sie seit der Nazi-Werdung von Sohn Simon „kein Familienleben mehr, sondern nur noch einen Machtkampf“ haben. (Stief-)Vater ist Fernfahrer und in der Freizeit viel mit Patiencen-Legen im Computer beschäftigt, Mutter ist von Beruf Krankenschwester und nun vor allem mit der Versorgung ihrer Familie ausgelastet, Sohn Marius geht noch zur Schule und hat Fotos schwarzer US-Rapper an der Wand hängen und war sowieso schon immer „pflegeleicht“, Sohn Simon sucht eine Lehrstelle, und das in der Provinz, also ausweglos. Vorher eine „heile Welt“ mit Vater, Mutter, zwei Kindern, Hund und nett aufgeräumtem Häuschen, in dem man „miteinander viel gelacht hat“ (Mutter Susanne), nachher das große Staunen über das Zerbrechen dieser ach so normalen Familie, das diesem „immer-schon-Problemkind“ Simon angelastet wird? Die Dokumentation enthält sich konsequent jeglicher Bewertung und jeglichen Kommentars. Dafür hält sie mit der Kamera und dem Mikrofon unerbittlich auf die Protagonisten drauf, zu denen seit letztem Jahr auch noch Simons 22jährige Freundin Sandra zählt. Drogensüchtig, Verlust des Sorgerechts für ihren Sohn, bis zum Filmabschluss sechzehn Entzugsversuche hinter sich, ihr apathischer Anti-Körper zum bulligen Reizpotential Simons macht das Drama in Niederbayern in jeder Hinsicht komplett. Und es ist ein Drama, was hier von Folge zu Folge changiert, Idylle war nie, wie sich zum Schluss herausstellt. Mit jeder Szene steigert sich die Beklemmung und weitet das Verständnis für die Verstrickung in diesem „Familienkrieg“.Ist in der ersten Folge noch klar, dass Simon ein einziges Ekelpaket ist, fragt man sich schon in der zweiten, warum Mutter Susanne nicht von ihren provokativen Sticheleien lassen kann. Um im dritten Teil zu begreifen, dass es wohl Konstellationen zwischen Menschen gibt, die nur noch tragisch sind und denen ohne Eingriff von außen niemand der Beteiligten entrinnen kann. Die Frage, wer „kaputter“ ist – Simon? Sandra? Susanne? -, wird obsolet, wenn man merkt, wie kaputt das ganze Beziehungsgeflecht ist. Was man am Anfang noch für eine aufgeklärte Argumentation der Mutter gegenüber den Brüllereien ihres Sohnes halten mag, stellt sich spätestens in der dritten Folge als manische Provokationsschraube heraus, auf die der Sohn gar nicht anders reagieren kann, als ganz zum Schluss weiß vor Wut das Filmteam geradezu anzuflehen: „Bringt sie weg, sonst bring ich sie um! Macht was!“ Spätestens an dieser Stelle wird diese Art der Wir – sind – einfach – mit – der – Kamera – dabei – und – zeigen – neutral – alles – was – uns – vor – die – Linse – kommt – ansonsten – halten – wir – uns – da – raus – die – Bilder – sprechen – für – sich – Dokumentation mehr als fragwürdig. Hatte die Mutter nicht schon in der zweiten Folge verzweifelt erklärt, dass ihrer Familie in den letzten vier Jahren niemand geholfen habe, weder die Polizei noch das Jugendamt noch sonst wer? Zeigt sich in dieser Doku-Soap-Aufbereitung nicht eine Anbiederung aus Verwertungsinteresse, die typisch ist für eine auch unter Medienleuten weit verbreitete Gleichgültigkeit gegenüber allem um einen herum? Darf ein Filmteam so folgenreich Menschen, welcher Couleur auch immer, bloßstellen? So spiegelt die Machart des Films dieselbe ignorante Lieblosigkeit wider, unter der sich auch die Familienkriegs-Dynamik entwickelt hat. Besame mucho? Von wegen! Unter deutschen Dächern: Familienkrieg. ARD, am 17., 20. und 22. Mai um jeweils 21.45 Uhr

„Unter deutschen Dächern“ ist Ruh‘
Kein zweites Passau: Warum im niederbayerischen Vilshofen der Bürgermeister mit einem Fernsehteam aneinander geriet
Von Jörg Völkerling
Vilshofen sollte so etwas nicht passieren: Kein „zweites“ Weiden – wo Brandsätze gegen die Jüdische Gemeinde flogen und man sich über das ZDF grämte, weil es die oberpfälzische Stadt daraufhin in eine Reihe mit Solingen oder Mölln stellte. Kein „zweites“ Passau – wo jährlich NPD und DVU aufmarschieren und man sich über den „Spiegel“ ärgerte, weil der millionenfach die Schlagzeile „Passau ist braun“ ins Land posaunte. Soweit wollte es Vilshofens Bürgermeister Hans Gschwendtner (CSU) gar nicht erst kommen lassen, als ihm dieser Tage, auf dem Stadtplatz, ein Skinhead seine Sicht der Dinge entgegenbrüllte: „Vilshofen ist die Hochburg von uns Rechten!“ Weil ein Kamerateam von Radio Bremen dabei stand und die Szenerie festhielt, holte Gschwendtner die Polizei und ließ die Personalien aller Beteiligten feststellen. Seine Vermutung war tags darauf in der Passauer Neuen Presse nachzulesen: „Der Bürgermeister mutmaßt, dass die Rechten von dem Fernsehteam geradezu ermuntert wurden, ihre Parolen von sich zu geben.“ Zu der Auffassung gelangte Gschwendtner auch deshalb, weil er sich sicher ist, dass es in Vilshofen keine rechte Szene gibt. Er wolle sich „an den Intendanten wenden“, um den Beitrag zu verhindern.

Dass ein Bürgermeister noch vor Fertigstellung eines Beitrags den öffentlich-rechtlichen Kotau erzwingen will, um eine womöglich negative Berichterstattung zu verhindern, dies nun wieder ist Gerhard Widmer, Redaktionsleiter Kultur & Gesellschaft bei Radio Bremen, noch nicht vorgekommen. Zumal er sich keiner Schuld bewusst ist: „Wir drehen hier doch keinen Sensationsreport“, sagt er der WELT. Ganz im Gegenteil: Filmautor Reinhard Schneider ist für die renommierte ARD-Reihe „Unter deutschen Dächern“ in Vilshofen unterwegs, um das Porträt einer Familie zu zeichnen, aus der ein Mitglied in die rechte Szene abrutscht. „Das hätten wir genauso auch in Schleswig-Holstein oder Rheinland-Pfalz drehen können“, sagt Gerhard Widmer. Dass es Ostbayern wurde, lag an einer Zufallsbekanntschaft des Autors. Dass nun aber auch die rechte Szene von Vilshofen ins Licht der Öffentlichkeit rücken könnte, kann Widmer nicht ausschließen – Tendenz-Journalismus allerdings will er sich nicht vorwerfen lassen. Bürgermeister Hans Gschwendtner hat er deshalb eingeladen, sich die Aufzeichnung jener Situation anzusehen, aus der heraus die Aussage, Vilshofen sei eine Hochburg der Rechten, gemacht wurde. „Dem Band ist eindeutig zu entnehmen, dass es keinerlei Einmischung des Autors gegeben hat“, so Widmer. Vielmehr habe jenen 19-jährigen Simon, stadtbekannter Rechter und Hauptperson in der ARD-Dokumentation, wohl „das Fell gejuckt“.

„Spätpubertär“ nennt Autor Schneider den Ausfall des Jungen, als „ehrenhaft“ bezeichnet Redakteur Widmer mittlerweile den Versuch des Bürgermeisters, sich vor seinen Ort zu stellen. Auch Gschwendtner selbst hat den Rückwärtsgang eingelegt: Von Beschwerde ist plötzlich keine Rede mehr, der Autor habe ihm ja versichert, es gehe „nur“ um eine Familie. Nun bittet der Politiker um Nachsicht: „Wir waren ja von Passau vorgewarnt“, sagt er. Denn: „Da leidet die ganze Bevölkerung drunter!“ Damit meint er natürlich nicht die zweifelsfrei dokumentierbaren rechten Auftritte, sondern die Berichterstattung darüber. Vilshofens Polizeichef Otto Draxinger lässt sich auf die Frage nach einer rechten Szene mit der Aussage „Derzeit keine Erkenntnisse“ zitieren. Dass es Übergriffe auf Aussiedler gegeben hat, liegt lange zurück – und sollte wohl besser unerwähnt bleiben. In Passau immerhin sollen nach dem „Spiegel“-Artikel potenzielle Investoren abgesprungen sein.