Mehr sagen, als man weiß.

In der filmischen oder akustischen Übersetzung von Wirklichkeit gibt es für mich Momente, in denen sich etwas vielsagend verdichtet. Ein schwer kalkulierbares Geschenk, das Augenblicke erzeugt, die über das hinausgehen, was Worte zu fassen vermögen.

In dem Film „Tschernobyl – 10 Jahre danach“ war es für mich der auf seiner Wohnzimmercouch zusammengesunkene Schichtleiter der Unfallnacht, Boris Rogoschkin. Nach und nach offenbart sich ein Kontrast zwischen der Schlichtheit seiner Worte und dem desaströsen Ereignis, von dem er berichtet. Schlagartig wird deutlich, dass die Kernenergie im Fall einer Katastrophe dem einzelnen eine Verantwortung auferlegt, die weder tragbar noch ertragbar ist.

In dem Hörfunkfeature „Der Abstieg“ ist es der Telefonanruf des arbeitslosen Schlossers Norbert Kabbeck auf eine Stellenanzeige. Vom anderen Ende der Leitung vernimmt er nur harsche Worte, und in Norberts defensiven Nachfragen liegt die ganze Hoffnungslosigkeit seiner Situation. Als er schließlich enttäuscht den Hörer auflegt, lacht er plötzlich laut auf – ein verzweifeltes Lachen, das nur mühsam Tränen unterdrückt und ein Weinen verbirgt.

Sowohl bei Norbert Kabbeck als auch bei Boris Rogoschkin handelt es sich um unverstellte Augenblicke, die etwas offenbaren, das über den reinen Erzählinhalt hinausgeht. In der Ton- und Filmmontage führen solche Momente dazu, dass Eins plus Eins nicht Zwei ergibt. Das Medium kreiert etwas Neues, ein Drittes, das sich in seiner Komplexität und Expressivität einer Eindeutigkeit entzieht. Für den Zuhörer oder Zuschauer entstehen im geglückten Fall Emotions- und Assoziationsräume, die Nähe und innere Bewegtheit erzeugen.

Reinhard Schneider